Die Vermessung der Leere – und der Klang hinter der Stille
- Ingo Webecke
- 22. Mai
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 26. Mai
Ein Essay über Zahlen, die blenden – und Stimmen, die bleiben.

I. Der Klangraum
Stell dir einen Konzertsaal vor.
Ein Orchester sitzt bereit.
Violinen, Celli, Trompeten, ein Flügel, sogar eine Harfe. Alles da. Alles gestimmt.
Aber niemand spielt.
Stattdessen: Ein Algorithmus spielt ein Muster ein. Präzise. Berechenbar.
Fehlerfrei.
Es klingt korrekt. Aber nicht echt.
Denn Authentizität ist kein Algorithmus. Sie ist ein Klang. Ein lebendiger. Ein vibrierender. Ein mitatmender.
Und so sitzen sie da: die Musiker. Mit ihren Instrumenten.
Und schweigen.
Denn man hat ihnen gesagt, der Algorithmus sei effizienter. Berechenbarer. Sicherer.
So begann die Vermessung der Leere.
II. Die metrische Gesellschaft
Wir leben in einer Welt, in der fast alles zählbar geworden ist.
Follower. Klicks. Views. OKRs. KPIs. Conversion Rates.
Wir messen Output, Performance, Aufmerksamkeitsspannen.
Und verwechseln dabei Regelmäßigkeit mit Wahrheit. Korrelation mit Bedeutung.
Die Wirtschaft hat sich in ein Orchester verwandelt, das nur noch nach Metronom spielt.
Aber niemand fragt mehr: Wofür? Für wen? Und mit welchem Klang?
Tomáš Sedláček nennt es eine „Poetik der Zahlen“ – eine neue Ästhetik, in der sich das Wahre im Quantitativen versteckt.
Doch wie jede Ästhetik hat auch sie einen blinden Fleck: Das, was sich nicht vermessen lässt.
Gefühl. Bedeutung. Menschlichkeit.
Oder mit den Worten von Viktor Frankl: Der Mensch ist kein Ding, das man programmiert. Er ist ein Wesen, das fragt.
III. Der verstimmte Mensch
Diese metrische Obsession bleibt nicht ohne Wirkung. Sie schafft ein neues Menschenbild: Der Mensch als System. Als Lieferant. Als Ressource mit Haut.
Ludwig von Mises warnte einst vor dem Glauben, Gesellschaft ließe sich planen wie ein Uhrwerk.
Und Hayek erkannte klar: Wo der Glaube an Steuerbarkeit regiert, verliert der Mensch seine Stimme.
Nicht, weil er nichts mehr zu sagen hätte. Sondern weil niemand mehr zuhört.
Denn Hören braucht Zeit. Und Zeit ist in einer Welt der Beschleunigung verdächtig geworden.
So beginnen Menschen, sich selbst nur noch als Output-Einheit zu erleben.
Und nennen es: Fortschritt.
IV. Die Stimme, die bleibt
Aber da ist sie noch. Diese Stimme.
Zart vielleicht. Verstimmt. Aber lebendig.
Die Stimme, die nicht aus einem Plan stammt. Sondern aus einem Inneren.
Die Stimme, die nicht gefallen will. Sondern klingen.
Es ist die Stimme des Denkens, das noch nicht optimiert wurde.
Die Stimme des Staunens, das sich nicht rechtfertigen muss.
Die Stimme des Menschen, der nicht Algorithmus ist – sondern Antwort.
Paul Watzlawick wusste: Wirklichkeit ist nicht das, was ist. Sondern das, was wir für möglich halten.
Und möglich ist nur, was gesagt werden kann. Was gehört wird. Was Bedeutung findet.
Vielleicht beginnt genau hier die neue Ökonomie:
Nicht in der Optimierung. Sondern im Wiederhören.
V. Das Wort, das wirkt
Sprache ist kein neutrales Werkzeug. Sie ist ein Resonanzfeld – und ein Machtinstrument. Wer Begriffe besetzt, besetzt Bedeutungen. Wer Bedeutungen verschiebt, verschiebt Wirklichkeit.
„Effizienzmaßnahme“ klingt anders als: „Wir haben keine Zeit für Reflexion.“ „Skill-Gap“ anders als: „Ich kann’s noch nicht – aber ich will es lernen.“ „Transformationsprozess“ anders als: „Wir haben uns verlaufen – und brauchen eine neue Karte.“
Paul Watzlawick wusste: Wirklichkeit wird gemacht – durch Kommunikation.
Und Elisabeth Wehling ergänzte: Nicht durch Fakten, sondern durch Frames.
Deshalb ist es kein Zufall, dass heute so viele Worthülsen herumschwirren –
sie sind nicht leer, sie sind nützlich.
Nützlich für Systeme, die lieber simulieren als bedeuten.
Wer wirklich kommunizieren will, muss nicht lauter – sondern klarer werden.
Und wer klar sein will, braucht Worte, die aus seiner Essenz kommen – nicht aus Templates.
Vielleicht beginnt genau dort eine neue Stimme: Nicht im Statement. Sondern im Sinn.
VI. Die neue Partitur
Was wäre, wenn Unternehmen wieder beginnen würden, zu stimmen statt zu steuern?
Wenn sie Klangräume wären statt Zielsysteme?
Wenn Kommunikation nicht als Verlautbarung, sondern als Resonanz verstanden würde?
Wenn ein Audit nicht kontrolliert, sondern hört?
Wenn ein Markenprozess nicht poliert, sondern erinnert?
Und wenn ein neues Denken nicht sofort verkauft, sondern erst einmal fragt?
Hayek schrieb: „Die größte Gefahr liegt im Wunsch nach totaler Ordnung.“
Vielleicht liegt eine neue Ordnung eben nicht in der Kontrolle. Sondern im Vertrauen, dass Klang entsteht, wo Menschen wieder spielen dürfen.
Nicht nach Scorecard. Sondern nach Bedeutung.
Nicht durch Taktung. Sondern durch Taktgefühl.
Nicht als KPI. Sondern als Konzert.
Und vielleicht ist genau das die wahre Renaissance:
Die Rückkehr der Stimme, die bleibt.