Purpose™ Inc. – Die große Sinnflation
- Ingo Webecke

- 23. Okt.
- 3 Min. Lesezeit
Wie Sinn zur Ware wurde – und wie wir ihn zurückerobern können.

Man stelle sich eine riesige Halle vor. Edelstahl. Neonlicht. Förderbänder rattern. Hinten wird heiß gepresst, vorne etikettiert: „Empowering Humanity“, „Reimagining Joy“, „Sustainability as a Service™“.
Was hier entsteht, ist kein Auto, kein Joghurt, kein Tech-Produkt. Es ist: Purpose. Frisch gegossen, schön glänzend – und sofort marktfähig.
Von hier aus geht er in die Welt: in Startup-Decks, die Köpfe der Investoren, ESG-Reports, Karriere-Seiten und Werbekampagnen. Dort soll er etwas bewegen: Kaufentscheidungen. Identifikation. Glauben. Aber nicht zu viel, bitte.
Der Purpose muss gefallen, aber nicht in die Tiefe wirken. Er soll nur ein bisschen leuchten – mit stromsparender LED.
Willkommen in der Purpose-Fabrik
Hier wird Bedeutung synthetisch hergestellt. Die Rohstoffe: Schlagworte, Sehnsüchte, Slides. Die Mechanik: semantisches Highspeed-Framing mit dem Versprechen von Tiefe.
So verwandelt sich ein gewöhnliches Geschäftsmodell in eine heilsversprechende Selbsterzählung: „We exist to revolutionize [hier bitte einsetzen: Learning, Wellness, Finance, Humanity].“
Dass das Produkt oft bloß ein schicker Wrapper um eine alte Idee ist – sei’s drum.
Wichtig ist: Der Purpose passt.
Zum Pitch. Zur Funding-Runde. Und vielleicht sogar zur Zielgruppe.
Das Purpose-Buffet
Im Pausenraum der Purpose-Fabrik steht ein offenes Buffet. Es gibt: Ethik-light, Vision-To-Go, Wertebällchen, fluffig-woke serviert. Dazu: Impact-Wasser mit Spritz – zertifiziert CO₂-neutral. Alle bedienen sich. Manche doppelt.
Ganz hinten gibt es auch ein altes Gefäß mit „Sinn nach Viktor Frankl“. Es bleibt meist unangetastet.
Denn echte Sinnfragen sind kein Fast Food. Sie brauchen Raum. Und Stille. Beides stört den Takt der Maschine.
Die große Sinnflation
In einer Welt, die Orientierung vermisst, Halt sucht und an Hyperkonsum leidet, wird Sinn zur letzten Währung.
Und wenn Menschen Sinn wollen – liefert der Markt ihn eben. Nicht in Tiefe, sondern in Dosen.
Purpose ist zur Verpackung geworden. Nicht mehr Quelle der Motivation, sondern Mittel zum Zweck. Ein Tool im Branding-Baukasten – standardisiert, skalierbar, storytelling-kompatibel.
Und damit ist auch der Begriff selbst entkernt worden. Was ursprünglich innere Ausrichtung bedeutete, meint heute äußere Anmutung.
Zwischen Sehnsucht und Simulation
Das Tragische: Der Wunsch nach Sinn ist echt. Nur seine Herstellung ist synthetisch.
Viele Unternehmen folgen heute der Inkubatoren-Logik: Erprobte Geschäftsmodelle, aggressive Skalierung, wohlklingende Narrative –fertig ist die neue Marke.
Was fehlt, ist Substanz. Nicht im Pitch. Nicht im Portfolio. Sondern im Inneren.
Denn ein echtes „Why“ entsteht nicht am Whiteboard. Es wächst – durch Erfahrung, durch Zweifel, durch das Ringen um die eigene Wahrheit.
Warum mit echtem Grund
In der Fabrik wird gefragt: „Was verkauft sich gut?“ Die wichtigere Frage wäre: „Was will durch mich in die Welt?“
Denn: Nicht jeder Gedanke ist wirklich deiner.
Nicht jede Idee ist wirklich echt.
Und nicht alles, was wirkt, ist auch wahr.
Echte Ideen werden nicht äußerlich erfunden – sie werden innerlich gefunden.
Sie klopfen an, wenn es still wird in dir. Und sie gehen wieder, wenn du nur schnell etwas pitchen willst.
Wer eine echte Idee hat, sollte ihr zuhören. Oder, wie Otto Scharmer es formuliert:
„Die Qualität des Ergebnisses hängt von der Qualität des inneren Ausgangspunkts ab.“
Purpose ist kein Produkt. Es ist ein innerer Ort. Und der lässt sich nicht „hacken“.
Wirtschaft als schöpferischer Akt
Sinn fragt nicht nach Reichweite, sondern nach Echtheit. Nicht: Wie groß ist der Markt? Sondern: Wie stimmig ist die Idee zu dem, der sie trägt?
Denn echten Sinn gibt es nicht von der Stange. Er entsteht. Im Erkennen. Im Mut, anders zu denken – und trotzdem sichtbar zu sein.
Günter Faltin nennt das unternehmerische Stimmigkeit. Nicht: wie viele Millionen du skalierst, sondern: wie sehr deine Idee wirklich zu dir passt.
Echte Entrepreneurship beginnt nicht mit Shareholder Value, sondern mit einem inneren Ja. Sie ist keine Marktstrategie, sondern ein kultureller Beitrag. Ein schöpferischer Akt.
Das Ende der Maschine – der Anfang von Kultur
In der Purpose-Fabrik wird gerade auf KI umgerüstet. Der Output klingt dann noch besser: „We empower conscious transformation through scalable trust dynamics.“
Die Förderbänder laufen weiter. Aber etwas fehlt.
Es ist: Seele.
Deshalb braucht es nicht noch mehr Purpose – sondern mehr Sinn für Sinn.
Und der liegt nicht in der Fabrik. Sondern im Gespräch. Im Innehalten. Im Mut, nicht sofort zu wissen – aber ehrlich zu fragen.
Viktor Frankl erinnerte uns: "Wer ein Warum zum Leben hat, erträgt fast jedes Wie." Das gilt auch für Unternehmen.
Epilog – Einladung zur Entfabrizierung
Du bist kein Produkt. Du bist kein Claim. Du bist keine Agenda.
Vielleicht bist du ein Mensch mit einer echten Idee, mit einem Warum, das noch nicht spruchreif ist, aber lebendig.
Wenn ja: Willkommen. Der Weg beginnt nicht mit einem Purpose-Statement. Sondern mit dir.
Und es braucht nur diesen einen Schritt: raus aus der Fabrik – hinein in die Stille.
Denn, wie schon Platon wusste:
Alles Sichtbare beginnt im Unsichtbaren.



